Nie in der Geschichte des Menschen war derselbe tagaus tagein von so vielen Bildern begleitet.
Ein Beitrag von Dr. Phil. Michael Hohmann
Die Bildwelt eroberte ehemals bildfremde Medien wie die Zeitung, schuf selbst ihre eigenen Medien wie Magazine, Revuen, die Kinematographie und das Fernsehen. Elektronische Datenverarbeitung schließlich findet ihren vorläufig letzten Höhepunkt in der Herstellung und Vermittlung von Bildern, die zum Teil selbst auf elektronischem Weg entstehen. So wie früher Schüler im Unterricht lernten zu zeichnen und zu malen, lernen sie heute mit digitalen Techniken Bilder herzustellen.
Studenten des Ingenieurwesens und der Architektur mussten bis vor wenigen Jahren mit Bleistift auf Papier zeichnen lernen – auch nach der Natur; heute bedienen sie mit der Maus Computerprogramme.
Wer früher photographierte, eroberte sich in der Dunkelkammer seine eigene Zauberwelt mit Hilfe wundersamer und geheimnisvoller Chemikalien, begab sich in die zweite Welt der Linsen und arbeitete erneut chemikalisch, um vom Negativ zum Positiv zu kommen. Heute tun es ein Kabel oder ein Stecker, die den Weg zum Rechner ebnen, und dort helfen den begeisterten Fotosammlern und –jägern eine zusätzliche Software zur Bildverarbeitung und immer größere Speicher.
Der Mensch scheint noch lange nicht am Ende seines Wunsches angelangt zu sein, sich ein Bild zu machen. Woher dieser schier maßlose Wunsch?
Gattungsgeschichtlich drängt sich die Antwort auf, er brauche das Bild, sich selbst zu vergewissern. Höhlenzeichnungen, der Mythos vom in sein Spiegelbild verliebten Narziß und die Porträtmalerei sprechen für diese Annahme. Und das Bild der Liebsten im Portemonnaie oder das Bild der Kinder auf dem Schreibtisch ist ein Beleg dafür. Auch die Polaroidkamera und der digitale Fotoapparat mit sofort überprüfbarem Ergebnis – das habe ich eben photographiert und ich sehe das, was ich vorher schon sah, nur wirklicher, bedeutsamer, wesentlicher – scheinen das zu bestätigen. Zunächst ist es nur ein neues Verfahren, das neben die alten Abbildtechniken tritt, durch die, wie wir annehmen, der Mensch die Welt sich eigen macht.
Erst durch den Artefakt wird die Welt menschlich. Die Verwandlung der Natur durchs Bild, durch den menschlichen Akt, ist eine Anverwandlung oder Aneignung der Welt.
Doch dieses neue automatisierte Verfahren erleichtert und beschleunigt das Abbilden und konkurriert allein durch die riesenhafte Zahl der ins Unendliche gehenden Verabbildlichung der Welt mit der ursprünglichen Betrachtung mittels unseres biologischen Linsensystems, unserer Augen. Wer so viele Bilder in seine Kamera bannt, dann auf dem Rechner speichert, ein Archiv aufbaut, dann ins Netz stellt oder die Bilder verschickt, somit andere wiederum dazu bringt, sich so viele Bilder anzuschauen, sei es im Netz oder auf CD-ROM, der hat als Macher wie als Betrachter schlicht weniger Zeit, sich sein eigenes Bild zu schaffen, sein Urbild von der ihn umgebenden Welt. Wer früher durch Auge und Verstand und Witz seinen Blick geschult, darauf lange das Bildermachen geübt und dann ein Bild hergestellt hat, der war ein guter Handwerker, gar ein Künstler.
Es werden heute nicht nur mehr Bilder gemacht und mehr Bilder angeschaut als vor zwanzig Jahren, es wird zumindest im Verhältnis auch mehr geknipst und dafür weniger photographiert. Dafür spricht neben dem immer noch nicht gesättigten Kameramarkt und der Zahl der Kameras überhaupt auch der Augenschein. Die Schulung des Blicks fürs Bildermachen oder durchs Bilderbetrachten gerät ins Hintertreffen. Was hervortritt ist der Schnappschuss. Möglicherweise ist dies nur ein Aspekt der allgemeinen Beschleunigung unseres Lebens.
Beschleunigung heißt in diesem Fall immer auch Verflachung, denn wer mit 150 Stundenkilometern über die Autobahn fährt, hat keine Zeit mehr für die Landschaft. Wer in einer nicht enden wollenden Schnappschuss-Bilderlandschaft zu Hause ist, findet keinen Anhaltspunkt und keine Zeit für einen tiefergehenden Blick.
Ebenfalls nicht zu vernachlässigen ist die Materialität des Bildträgers (oder Simulators). Bits und Bytes und Pixels sind nicht handhabbar, kein Mensch kann sie betasten. Ein Bildschirm ist kein Photopapier, ganz zu schweigen von einer Daguerrotypie. So passt die Herstellung des digitalen Bildes ganz ausgezeichnet zum Bildträger. Beides ist hochgradig unsinnlich. Ein Papierabzug hat diese oder jene Oberfläche, matt, hochglanz oder gar angeraut, er hat alle Papiereigenschaften, riecht sogar, ist manchmal eingerissen, geknickt oder zerkratzt. Bildschirme sind bestenfalls eingestaubt, anderenfalls wären sie einfach kaputt. Uns gehen in dieser digitalen Welt die Sinne verloren, die unsere Vorfahren vor Urzeiten als überlebensnotwendig herausgebildet haben. Ein neu sich herausbildender, in der heute gängigen Bedeutung von digital zu verstehender Sinn ist nicht vorstellbar.
Die Demokratisierung hat nicht nur Könige und Prinzen zum Opfer. Wenn früher Abendschulen für Arbeiter Photokurse anboten, besitzt heute jeder Deutsche eine oder gar zwei Kameras. Wenn früher handwerkliches Wissen gelehrt und künstlerische Grundsätze studiert wurden, die, richtig angewandt, mit der technisch schlichtesten Kamera für schönste Bilder sorgten, gibt es heute das dicke viersprachige Handbuch zur technischen Unterweisung der Kamera. Demokratisierung heißt in unserem Fall Vermassung des Bilds.
Gab es vor hundert Jahren ein Hochzeitsphoto, das über die Generationen vererbt wurde, gibt es heute hunderte Photos, die sich die nachfolgenden Generationen sicherlich nicht anschauen werden.
Demokratisierung heißt folglich auch ökonomisch einen Werteverlust des Bildes. Sich gegen diese Bilderflut zu verhalten, kann schnell in einer kläglichen Donquichoterie enden, wenn man sich zur aristokratischen Daguerrotypie und der bürgerlichen Kleinbildkamera zurückträumt. Man sollte sich schon der hinzugewonnenen Vorteile zu bedienen wissen.
Wer heute einmal ein Bild braucht, zum Beispiel als Beweis bei einem Autounfall, hat es schnell zur Hand. Die Rettung aus der Bilderflut jedoch kann nur in der Einübung von Fastenzyklen liegen. So wie das Übermaß an gastronomischem Genuss als Antwort das Fasten erfand, gleich ob religiös oder medizinisch indiziert, sollte dies auch für den Genuss von bewegten und ruhigen Bildern eingeführt werden. Familiär eingeübt, in der Schule verfestigt, wird uns eine solche Praxis vor drohenden Überreaktionen der Galle, vor Infarkten und Verfettung schützen. Das wäre, in allen Dingen, ein schönes Finale der Demokratisierung. Und die Rettung der Bilderindustrie.